Von Wolf E. Schneider

Fausto flucht wie immer über die großen Ausflugsschiffe, die täglich Hunderte Touristen in das Delta bringen. Er steuert sein kleines 5-Meter-Boot hinein in den Hafen von Tigre, ständig durchgeschüttelt von den Wellen der schnellen Motonaves. Die Positionslichter an dem Gerätetrager über dem Heck seines Bootes baumeln an losen Kabelenden hin und her. Einige Leinen hängen darüber, er wird sie für die Rückfahrt noch brauchen.

Faustos Enkel Christoph ist mit an Bord, auch das Fahrrad des Jungen liegt am Bug, halb schon im Wasser hängend. Christof muss zurück nach San Fernando zur Schule. Mit dem Fahrrad geht das schneller als in dem immer überfüllten Collectivo, dem Linienbus. Auch Faustos Frau Marta sitzt wie immer mit ihm auf dem kleinen schaukelnden Kahn. Sie muss einkaufen, wie immer die Wochenration. Fausto und Marta leben in Rama Negro, einer kleinen Siedlung im Delta. Tausende von Kilometern Wasserstraßen ziehen sich durch das Mündungsgegbiet der mächtigen südamerikanischen Ströme Rio Paraná und Rio Uruguay. 17.500 Quadratkilometer Delta – das ist größer als die Fläche Schleswig-Holsteins oder viermal größer als das Ruhrgebiet – enden direkt vor den Toren der argentinischen Hautpstadt Buenos Aires.

 

Das Delta ist ein Wasserparadies

Nicht überall ist es ein leises und idyllisches Paradies, dafür wollen viele der 13 Millionen Einwohner von Buenos Aires jedes Wochenende hierhin. Aber es ist ein Paradies für alle, die Wasser, Boote, Natur und maritimes Leben lieben. Und die Porteños – so nennen sich die Einwohner der Hauptstadt mit maritimem Stolz – lieben ihren Rio. Das Wasser ist, wie bei allen südamerikanischen Flüssen auf dem Weg zum Atlantik lehmig-braun, wie Milchkaffee. “Como un café con leche”, lacht Fausto und freut sich, wenn Besucher nach karibikklarem Wasser suchen. Es ist der hohe Eisengehalt, der aus den vielen kleinen Bächen und Flüssen in die beiden Ströme getragen wird, der das Wasser wie Milchkaffee färbt. Erst weit draußen – fast 300 km lang und 200 km breit ist der Mündungstrichter des Rio de La Plata zwischen Buenos Aires und dem uruguayischen Montevideo – vermischt sich das Wasser mit den salzigen Fluten des Südatlantik.

 

Der Hafen von Tigre ist klein. Er ist Ausgangspunkt und Ziel Hunderter kleiner Boote, Ausflugsschiffe und Vorsorgungslanchas. Ohne sich groß zu kümmern, legt der große Ausflugskatamaran vom Liegeplatz des mit mächtigen Palmen bewachsenen Kais ab. Jeder passt hier auf sich selber auf – Regeln scheinen unbekannt zu sein, akustische Signale erst recht. Zügig geht der Kurs nach Süden, dort wo sich das Delta schlagartig auf fast 200 km verbreitert, mit dem beeindruckenden Panorama der argentinischen Hauptstadt an Steuerbord. Viele Segler sind heute hinausgefahren und kreuzen über die endlos scheinende Fläche der Flussmündung. Scheinbar schon das Meer, aber es ist “nur” das Ende des Rio Paraná, des mit 4000 Kilometern Länge nach dem Amazonas größten Fluss Südamerikas.  Die Segler kreuzen hinaus auf den Rio de La Plata, vorbei an mit Containern bepackten Ozeanriesen von Hamburg-Süd, Maersk und Shanghai-Lines. Für die großen innternationalen Reedereien ist Buenos Aires der wichtigste Anlaufhafen im Südatlantik. Von hier verlassen Soja und Fleisch, Wolle und Mais, Obst und Wein das Land in Richtung Europa. Im Austausch dafür bringen sie Autos, Maschinen und Konsumgüter nach Argentinien.

 

Doch der Schiffsführer ändert seinen Kurs – er will tiefer hinein in das Delta. Hinein in das Labyrinth von unzähligen kleinen Wasserläufen. Hier sind sie alle zu Hause: kleine Speedboote, Segelyachten, Motorboote, Binnenschiffer und die allgegenwärtigen Versorgungslanchas. Diese flachen und fast 30 Meter langen Schiffe sind die wichtigsten Versorger und Transportmittel für das Delta. Sie transportieren Obst, Gasflaschen, Trinkwasser, Pakete, Baumaterial, Holz, Gepäck – und Menschen.

Wie Linienschiffe rasen sie durch die Wasserarme, stoppen kurz an die in den Fluss  hineingebauten Stegen, lassen Menschen ein- und aussteigen, laden die Fracht aus – und rasen weiter. Die Lanchas sind sehr schnittig gebaut, mit scharf geschnittenem Bug und wunderbar lackierten Decks und Rümpfen aus Holz. Sie sind die Lastesel des Deltas und ihre Kapitäne lieben sie. Das zeigen sie durch liebevolle Bemalungen an Bug und Heck. Immer wieder sind die Farben überlagert mit den Farebn blau-weiß-blau und der strahelden Sonne darin – der Nationalflagge Argentiniens.

Das Delta ist bewohnt. Aufgrund seiner enormen Größe aber kommen sich hier Menschen, Tiere, Pflanzen und die vielen Boote und Schiffe nicht ins Gehege.  Es ist Platz für alle da. Viele seltene Vogelarten sind hier beheimatet wie der Taguato und die Eule Nacurutu. Die Vegetation ist subtropisch und bietet vielen auch in Europa bekannten Bäumen ebenso eine geschützte Heimat wie der seltenen Yatay-Palme mit ihren prächtigen überhängenden Wedeln oder den üppig wuchernden knallrot-violetten Bougounvillas. Überall liegen in grossen Abständen herrliche Villen, bunte Kolonialhäuser, Pfahlbauten oder bescheidene Wochenendhäuser. Viele Argentinier haben hier seit Generationen ihr Ferien- und Wochenenddomizil in diesen Quintas. Am Freitagabend verlassen sie die Hauptstadt und bleiben bis zum Montagmorgen auf den vielen Anwesen am Wassser. Gebracht werden sie von den Lanchas oder sie reisen auf eigenem Kiel an. Grosse Firmen, wie der Mineralölkonzern YPF, die Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas oder die Gewerkschaft CGT haben hier für ihre Mitarbeiter große Anlagen erschlossen. Ehemalige Staatspräsidenten haben hier ihre Ferienhäuser, genauso wie Angestellte, Unternehmer und Handwerksmeister. Nur die Größe ihrer Anwesen unterscheidet sie  – die Liebe zum Delta jedoch eint sie alle.

 

Das Delta öffnet sich für jeden

Sowieso scheint das Delta alle gleich zu machen.  Auf jedem Grundstück werden am Wochenende riesige Berge von Fleisch gegrillt, die Kinder schwimmen im Rio, die Männer trinken Rotwein und reden stundenlang über nichts anderes als über Politik und Fußball. Ihre kleinen speedboote “hängen” vor fast jedem Grundstück an liftähnlichen Konstruktionen. Ließe man die Boote im Wasser, nähmen sie durch den andauernden Wellenschlag Schaden. Denn zumindest in den Hauptwasserarmen herrscht am Wochenende ein Verkehr wie beim Hamburger Hafengeburtstag vor den St.Pauli-Landungsbrücken.

 

Ruhig, sehr ruhig und idyllisch dagegen ist es in den Tausenden von kleinen Seitenarmen, die durch die Wasserlandschaft zwischen Rio Paraná und Rio Uruguay mäandern. Leise ziehen Ruderer ihre Riemen durch das Wasser. Nur selten begegnen sie anderen Booten oder Kajaks. Die Stille ist herrlich. Eine üppige Vegetation begleitet sie an den Ufern, je tiefer sie in das Delta eindringen. Hohe Königspalmen, dunkelgrüne Eiben, prächtige Laubbaeume und Schilfe, überall Schilf, der sich sanft in den Wellen des Deltas wiegt.  Genau das ist es, was die Porteños anzieht: Wasser und Landschaft für große Yachten, schnelle Speedboote, genießende Segler, sportliche Ruderer. Das Delta öffnet sich für jeden und hat für jeden ausreichend Platz.

Noch immer liegen alte, von Rost zerfressene  Bootsrümpfe in kleinen Buchten. Zerfallene Hallen kleiner Werften erzählen ihre Geschichten über alte, bessere Zeiten der argentinischen Werftindustrie. Längst hat sie ihre Bedeutung verloren im Wettbewerb der Schiffsbauer dieser Welt. Sich selbst überlassen, verrotten die halbfertigen Rümpfe; als beliebte Fotomotive der Touristen aus Europa, Nordamerika und Brasilien sind sie noch nützlich. Längst verdienen die Argentinier ihr Geld mit anderen Produkten, Fleisch, Soja und in zunehmendem Maße mit Tourismus. Die Touristen sind hier sehr willkommen. Fremdenfeindlichkeit kennen die Argentinier nicht – sind sie doch alle irgendwie Nachfahren von Italienern, Deutschen und Spaniern.

Am Puerto de Frutos in Tigre macht Fausto sein kleines Boot klar. Er ist stolz auf sein Delta: “Es una naturaleza increible hermosa”, schwärmt er von der unglaublichen Schönheit der Natur seiner Heimat zwischen den Strömen.  Er ist wie alle Argentinier stolz auf sein Land, die schönen Frauen – und schaut dabei schelmisch hinüber zu Marta -, die Nationalflagge und die Gastfreundlichkeit.  Auch wenn Fausto es sich nicht verkneifen kann, dass er noch immer ein wenig “enojado” – sauer- sei, auf das Ausscheiden seiner argentinischen Nationalmannschaft  gegen Deutschland bei der Fußball-WM 2006 und 2010.

Jetzt braucht Fausto die vielen Leinen an seinem Geräteträger. Einen Sack mit Orangen hängt er dort auf.  Marta hat noch Öl, Mehl, Zucker und Wein eingekauft. Fausto verstaut alles in drei Leinensaecke und schiebt sie unter die Sitzbank in der Plicht. Sein Enkel Christof ist inzwischen sicher zu Hause bei seinen Eltern in San Fernando. Nächsten Freitag wird er wiederkommen, um bei seinen Großeltern im Delta sein zu können. Fausto legt ab, flucht wie immer über die Ausflugsschiffe und steuert sein kleines Boot hinaus aus dem Hafen. Bald wird er wieder zu Hause sein, auf seiner Insel im Delta.